Langsam wurde es lächerlich. Pro und Kontra waren schließlich abgewogen. Nie wieder würde sie auf ihren Gefühlen rumtrampeln lassen! Und was hatte sie auch zu verlieren?
Sie erinnerte sich an einen Tag in der Stadt. Sie saß einfach da. Sie saß und beobachtete. So viele Menschen. So viel Leere. Diese Roboter eilten von Termin zu Termin. Ihre Gesichter waren entweder völlig ausgemerkelt, von dem vielen Stress gezeichnet, oder durch den Wohlstand aufgequollen und fett. Sie sah den Menschen in die Augen und sah...Nein, sie sah einfach nichts. Diese Menschen hatten wirklich keinen Sinn in ihrem Leben. Immer nur Ziele. Der Sinn, der war von den Zielen erdrückt. Die Termine lenkten von der Leere ab. Gaben ihr keine Möglichkeit, sich zu Wort zu melden.
So hatte sie nie werden wollen. NIE! Ein Leben ohne Bedeutung führen, ohne Auswirkungen. Einfach irgendwann tot sein und keinen interessiert's. Scheckliche Vorstellung. Doch, ihr Tod würde jemanden interessieren. Er würde etwas in den Herzen auslösen, da war sie sich sicher. Plötzlich tauchte das Gesicht ihrer Mutter vor ihrem geistigen Auge auf. Es drückte eine unbeschreibliche Trauer aus. Der Schmerz stach ihr ins Herz, bei dem Gedanken an ihre Mutter. Ein Film begann -angestoßen vom Gesicht ihrer Mutter- in ihrem Kopf abzulaufen. Sie würde springen, das stand fest. Der Flug war wahrscheinlich das Schlimmste. Denn der Schmerz, der beim Aufprall bevorstand, würde alle ihr bisheriges Verständnis von Schmerz wohl übertreffen. Vielleicht würde sie Teile ihres Körpers verlieren, Knochen würden brechen, Haut zerfetzen. Aber vielleicht ist es ja gar nicht so schlimm. Ein kurzer Schlag, der die Wirbelsäule zertrümmern würde. Sie wäre schnell tot. Und dann? Was würde dann kommen?
Eine Welle der Angst durchfloss ihren Körper. Gab es ein Leben danach? Ein Besseres? Und was viel Wichtiger war: gab es ein Leben für sie?
"WAS tue ich hier?", war die Frage, die im nächsten Moment Besitz von ihr ergriff. "Für solche Gedanken ist es jetzt zu spät. Meine Entscheidung ist längst gefallen. Das ist nur die Feigheit, die mir einzureden versucht, es sein zu lassen. Weil ich ein elender Schisser bin. Schon immer gewesen. Aber damit ist jetzt Schluss. Ein für alle Mal. SCHLUSS!"
Ihr Griff um das Brückengeländer entkrampfte sich. Sie war bereit. Bereit loszulassen. Bereit, ihrem jämmerlichen Leben ein Ende zu setzen. Sie erhob sich, beugte sich nach vorn -die Hände immer noch am Geländer- und streckte einen Fuß in die Tiefe. "Okay...auf drei lasse ich los. Eins. Zwei. DREI!"
Doch sie stand noch. Gegen diesen unbändigen Drang in ihr, zu springen. Sie stand. Sie lebte. Doch sie wollte nicht mehr leben. Ihre Hände hielten nun entgegen diesem Drang, das Geländer umklammert. Sie spürte eine Kraft, die sie zurückhielt. Stärker als die Kraft, die sie zum springen bringen wollte.
Plötzlich ertönte hinter ihr eine Stimme, die sagte:" Mein geliebtes Kind." Sie drehte sich um, doch es stand niemand hinter ihr. Sie war ganz allein. "Du siehst mich nicht, doch ich bin trotzdem da. Ich war schon immer da. Lange, bevor du geboren wordest. Ich habe zugesehen, wie du im Leib deiner Mutter herangewachsen bist. Ich jubelte, als du das Licht der Welt erblicktest. Es war im November. Am 2. November. Ja ich tanzte vor Freude, als du deinen ersten Schrei ausstießt. Ich war bei dir, als du erfuhrst, dass dich deine Eltern nicht geplant hatten. Das sie dich nicht gewollt haben. Ich sah den Schmerz in deinem Herzen. Habe jede Träne gesehen. Ja, deine Eltern haben sich anfangs nicht auf dich gefreut. Aber darf ich dir etwas sagen, meine Prinzessin? Ich habe dich geplant, ich habe dich erwartet. Sehnsüchtig erwartet. Und auch heute bin ich bei dir. Heute Morgen, als du beschlossen hast, das heute der Tag sein soll. Ich war es, der dir diese Zweifel gegeben hat. Und ich bin es, der dich liebt und möchte, dass du lebst. Und zwar nicht von einem Termin zum Nächsten. Nicht mit kalten, leeren Augen. Kein Leben ohne Auswirkungen. Wenn du dich auf mich einlässt, gebe ich dir ein erfülltes Leben. Es wird dir an nichts mangeln. Ich persönlich sorge für dein Wohl. Und ich gebe deinem Leben das, wonach du dich so sehr sehnst. Einen Sinn." Ohne es wirklich zu realisieren, war sie vom Brückengeländer heruntergeklettert. Sie saß nun auf dem Boden und lehnte an der anderen Seite. An der Seite, des Lebens. "Aber wer bist du denn?", fragte sie. "Ich bin, der ich bin.", war die Antwort. Da wusste sie, wonach sie suchen sollte. Sie wollte den kennen lernen, der ihr Leben gerettet hatte. Und sie wusste, wenn sie ihn gefunden hatte, fand sie in ihm auch den Sinn des Lebens.
Sie blickte nach links und sah eine alte Dame auf einen Fahrrad. Als sie an ihr vorbeifuhr, sagte diese mit einem Strahlen in den Augen: "Guten Tag!".
Und ja, es war ein guter Tag.
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Yeeeey. Danke für deinen Kommentar (: